Bei Barzdorf ist ein hoher Berg, genannt die Ringelkoppe. In diesem Berge sitzt eine
Jungfrau, die näht an einem Hemde. Jedes Jahr macht sie einen Stich. Wenn das
Hemd fertig sein wird, dann bricht der jüngste Tag herein. Am Karfreitage während
der Passion öffnen sich die Tore des Berges, man kann hineingehen und sich von den
Schätzen nehmen, die darin aufgespeichert sind. Doch nur so lange, als die Jungfrau
dreimal "Raff" sagt; beim dritten "Raff" schließt sich der Berg und der Saumselige
ist verloren.
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An einem Palmsonntage ging ein Bauer aus Ober-Barzdorf mit seinem Sohne nach
Wünschelburg zur Kirche. Am Fuße der Ringelkoppe bemerkte er eine Tür in den
Berg. Neugierig öffnete er dieselbe, nahm den Knaben bei der Hand und trat ein. Das
Kind hieß er hinter der Türe warten. Er selbst ging weiter und kam in einen Garten.
Inmitten desselben stand ein Schloß. Wunderbarer Gesang, der aus dem Schlosse zu
kommen schien, traf sein Ohr. Der Landmann ging dem Tone nach und fand in dem
ersten Gemache, welches er betrat, eine Jungfrau, die ein Linnenhemd in ihrer Hand
hielt. Sie schien daran zu nähen und sang zu ihrer Arbeit. Bei seinem Eintritte legte sie
die Arbeit weg und winkte ihm, näher zu kommen. Schon wollte der Bauer dem Winke
folgen, als ihm einfiel, die Jungfrau sei sicher die verwunschene Prinzessin, von der
ihm die Alten des Dorfes erzählt hatten, daß sie in der Ringelkoppe ihren Sitz habe.
Er enteilte so schnell er konnte ihrem Bereiche und kam glücklich ins Freie. Ein
donnerähnliches Krachen bewog ihn, sich umzuschaun. Die Tür war verschwunden,
kahle Sandsteinfelsen ließen ihn nicht einmal die Stelle finden, wo sie sich befunden
hatte.
Da erinnerte sich der Landmann seines Sohnes, den er hinter dem Eingange hatte
stehen lassen. All sein Suchen nach dem Kinde blieb vergeblich. Der Verzweiflung
nahe, kam er spät in der Nacht nach Hause und erzählte seine Erlebnisse. Niemand
wollte seinen Worten glauben.
Die Obrigkeit ließ ihn sogar in den Kerker werfen, weil
sich das Gerücht verbreitet hatte, er habe sein Kind ermordet. Nach langer Haft wurde
er zwar freigelassen, aber sein Besitz war arg heruntergekommen. Seine Felder waren
unbestellt, das Vieh abhanden, sein Haus verwüstet. Er selbst arbeitete nicht mehr,
sondern suchte Tag und Nacht am Fuße der Ringelkoppe nach seinem Knaben. Alle
Leute hielten ihn für verrückt.
Am Palmsonntag des nächsten Jahres begab er sich wieder an den Fuß des Berges. Zu
seinem größten Erstaunen fand er die Türe wieder, und hinter derselben, an dem Orte,
wo er ihn verlassen, seinen Knaben frisch und gesund. Rasch erfaßte er denselben und
ging davon. In der Hand hielt das Kind einen Apfel, der sich bei näherer Untersuchung
als pures Gold erwies.
Auf Befragen erzählte das Kind, es sei ihm im Berge wohl ergangen, sein Aufenthalt
dünke ihm nur einen Tag gewährt zu haben. Das Edelfräulein sei die Tochter des
Ritters, der auf dem Kamme des Gebirges seine Burg besessen habe. Sie sei für die
Übeltaten ihres Vaters, welcher wehrlose Wanderer beraubt und ermordet habe, von
einem Zauberer in den Berg gebannt worden und müsse hier ein Hemd fertigen.
Alljährlich mache sie daran nur einen Stich. Sobald sie es vollendet habe, sei der Welt
Ende und damit ihre Erlösung gekommen. Gegenwärtig arbeite sie schon am letzten
Ärmel.